Mittwoch, 4. April 2012

IND-XXIV: Praktikum in Indien – Notizen (9)

* Fußball in Indien *

Von den 31 Ländern, in denen ich bisher außerhalb Deutschlands Fußball geguckt habe, war Indien das mit Abstand unattraktivste. Noch hinter Liechtenstein. 1,2 Milliarden Einwohner – nur wenig mehr als 10.000 Fußballmannschaften – nicht ein einziger Profi im Ausland – an einer WM nicht teilgenommen, da man unbedingt ohne Schuhe kicken wollte und die FIFA es unterband – eine Profiliga, in der fast alle Mannschaften kaum Niveau der Landesliga haben und Zuschauerzahlen, die nur in absoluten Ausnahmefällen den höheren vierstelligen oder gar fünfstelligen Bereich (bei einem Land von wie gesagt 1,2 Milliarden Menschen und Spielorten, die Millionen von Einwohnern haben) erreichen... Bei einer Gesellschaft wie der indischen, kann man aber auch nichts im Fußball erreichen. Fußball ist für viele Inder aus unterschiedlichen Gründen unattraktiv. In einer Nation mehrheitlich falsch- und mangelernährter Menschen, in der man so gut wie gar nicht von einer unteren sozialen Schicht in eine obere aufsteigen kann, und in der Individualität (meist ist es sogar mehr Egoismus) so übertrieben groß geschrieben wird, kann ein anstrengender Teamsport wie Fußball auch nicht erfolgreich sein. Der in den meisten Ländern der Welt beliebteste Sport hat nur eine geringe Bedeutung im Schatten des Cricket.

Warum Cricket, fragen sich natürlich manche? Ganz einfach: da die überwältigende Mehrheit der Inder auch gar nicht fähig ist, einen körperlich anspruchsvollen Sport wie Fußball auszuüben! Warum ist denn wohl nicht Fußball oder Rugby der beliebteste Sport in der britischen Ex-Kolonie, wie es z.B. auf den Fidschi-Inseln der Fall ist, wo Rugby vor Fußball und weit vor Cricket rangiert? Beim Cricket muss man geschickt werfen und geschickt mit einem Schläger umgehen können, kann aber auch in höheren Ligen ein unterernährter Vegetarier oder Veganer sein, da es kaum Laufaufwand gibt. Das Problem der enormen Länge eines Cricketspiels hat sich schnell mit den vielen kurzen und längeren Pausen erledigt. Hinzu kommt die Einstellung der absoluten Mehrheit der Inder, lieber für sich zu spielen und nicht für den Erfolg eines Teams. Wie Raju schon meinte, spielte er früher immer lieber Cricket, da alle Ergebnisse, die man als Schlagmann oder Werfer erreicht, genauesten vermerkt werden. Der eigene Erfolg rückt in den Vordergrund, während der Erfolg des Teams marginalisiert wird: Hauptsache man hat sein Century oder wenigstens so 50 Runs geschafft – ob das Team nun mit 8 Wickets verloren hat, ist halb so wichtig.

Es gibt natürlich auch positive Ausnahmen. Wenn man sich Kalkutta anschaut und die 100.000 Zuschauer sieht, die wenigstens bei Derbyspielen und internationalen Duellen ins riesige Saltlake Stadium gehen, zum Beispiel. Die beiden Teams, die diese Massen an Fans haben, heißen Mohun Bagan und East Bengal. Dort gibt es alles, was zu einem wichtigen Fußballspiel dazugehört: wenigstens halbwegs talentierte und gute Spiele (die entsprechend auch relativ hoch bezahlt werden), viele Fans die ihr Team anfeuern und auch schnell ausrasten (normalerweise gibt es beim Fußball in Indien keine Krawalle: aber man möchte fast sagen, Kalkutta ist nicht Indien), Medienaufmerksamkeit, Merchandising...

Doch Kalkutta ist eine absolute Ausnahme. Das ist eine größere Stadt in einem riesigen Land. Dieser Post im „Indian Football Forum“ trifft die Situation ganz gut: „Because of these Kolkata fans still football is alive in Kolkata. Kolkata shows that 1 lakh fan in Mohunbagan East Bengal match and few thousand( not even 5 figure) in International cricket matches in Eden Garden. When all over India Cricket has eaten all other games, only in Kolkata, Goa and NorthEastern Region football is becoming more and more popular.”
Goa kann man im kleinen auch noch so akzeptieren und im Nordosten Indiens wird sich Fußball vielleicht auch noch entwickeln, aber in den meisten Landesteilen nimmt man Fußball viel eher durch negative Zwischenfälle war: in Bangalore starb vor wenigen Wochen ein Viertligaspieler an Herzversagen – schlecht trainiert, körperlich nicht für diesen Sport geeignet… OK, passiert überall. Fußball ist schließlich für alle da: sonst würde es Tennis oder Hockey heißen. Aber wenn ein Spieler stirbt, weil es keinen Mannschaftsarzt gibt, kein Krankenwagen in der Nähe ist und ein Krankenhaus nur zwei Kilometer entfernt liegt aber nicht rechtzeitig angesteuert werden kann, da man erst eine Rikscha rufen musste um den Zusammengebrochenen abzutransportieren, wirft das ein deutliches Licht auf diese Nation.

In Anbetracht der Realität des indischen Sports, insbesondere Fußballs, wirken Artikel wie „Indien, der schlafende Fußballriese“ von Martin Krauss in der TAZ wie ein schlechter Witz. Aber eigentlich zeigt nur, wie unfähig der Journalist ist, dass er derartig an den Haaren herbeigezogene Sachen – das ist selbst für die TAZ unter aller Sau – schreibt.
Den größten Unfug habe ich hier mal herausgestrichen:
1. „In 16 Jahren, aber wem sage ich das, findet wieder eine Fußball-WM statt. Und zwar, wenn alles gut geht, 2026 in Indien. Das fordert zumindest Suresh Kalmadi, der erst jüngst erfolgreich die Commonwealth-Spiele organisiert hatte.“ Quatsch! Wenn man Ahnung hat, kommentiert man diesen Absatz mit dem Hinweis auf die kranke Selbstüberschätzung vieler vor allem hindu-nationalistischer Inder. So eine Anmerkung gehört auch in einen Zeitungsartikel, wenn man eine solche Schwachsinnsaussage als Journalist vorgesetzt bekommt.
2. „Fußball ist trotz Kricket und Hockey der Volkssport Nummer eins. Es ist der Sport der Unter- und Mittelschicht Indiens, also der großen Masse.“ Quatsch! Schon ist der Autor auf die nächste Lüge eines indischen Interviewpartners hereingefallen. Auch die unteren Schichten spielen Cricket – freilich landet ein Bauernkind nie in der IPL oder der Nationalmannschaft.
3. „In Kalkutta steht mit dem Yuba Bharati Krirangan das zweitgrößte Stadion der Welt; nicht selten sind, wenn dort I-League-Spiele der indischen Profiteams ausgetragen werden, alle 120.000 Plätze besetzt.“ Totaler Quatsch! Selbst beim Derby kommen selten mehr als 100.000 und bei einem normalen Ligaspiel meist weit unter 50.000!
4. „anders als europäische Beobachter es vielleicht vermuten würden, verdienen die besten indischen Fußballprofis mehr als ihre Kollegen aus dem Kricket.“ Was ein Quatsch! Vergleich mal die Einkünfte der IPL-Spieler (v.a. inklusive Werbeverträge und dergleichen mehr: in Deutschland wird Nutella von Fußballprofis beworben – in Indien Nahrungsergänzungsmittel von Cricketprofis) mit denen der I-League-Kicker. Logischerweise kriegt man für hervorragendes Cricket mehr Kohle, als für minderwertigen Fußball!
5. „So viel Anschluss an Weltfußball und Weltmarkt - beides nicht ganz unwesentlich von einer fränkischen Firma mit drei Streifen geprägt - wollte man in Indien damals nicht. Und wurde prompt abgehängt.“ Ach Quatsch! Selbst wenn die gleich auf den Zug aufgesprungen wären, wäre Indien wieder runtergefallen, da es sich in den wenigstens Bereichen wirklich nach vorne entwickelt. Eine rein gesellschaftliche Sache – keine wirtschaftliche. Da braucht man nur mal mit offenen Augen in diesem Land unterwegs gewesen sein!
6. „Bei der Erschließung des Fußballweltmarkts fehlen nur noch China und Indien.“ Das ganze Fazit des Autors ist totaler Müll. Schon allein dieser Satz im Schlussabschnitt. In China gibt es eine ganz andere Sportszene als in Indien: wenn man Weltklasseleute in Tischtennis, verschiedenen Kampfsportarten, Turnen u.a. hat, macht es doch nichts, wenn man den mittelmäßigen Fußball (den mittelmäßigen! Indien ist weit hinter China im Leistungsvermögen!) nur gemächlich ausbaut. Man ist trotzdem – wie immer – vor Indien. Nicht nur im Fußball zieht Indien immer den Kürzeren gegen China: so unsauber und unsympathisch China auch zu seinen Erfolgen kommt – diese Nation ist in einigen Dingen wenigstens wirklich fähig und tönt nicht nur arrogant herum wie Indien!

Übrigens: All diese Fakten waren einfach nachzurecherchieren. Einen schlechteren Artikel als Krauss im Sportteil kann man kaum verfassen!

Meine Prognose geht aufgrund der vorliegenden Fakten in die Richtung, dass sich der Fußball in Indien in 10, 20 oder 100 Jahren genauso entwickeln wird, wie das gesamte Land mit aller Wirtschaft, Infrastruktur und sozialem System: nämlich gar nicht oder fast nicht. Da hilft auch keine Ausländerliga auf indischem Boden – in der I-League sind sowieso schon viele ausländische Spieler, die trotz ihrer mangelhaften Qualitäten Geld verdienen und die meisten Tore schießen (siehe Scorerliste bei soccerway!) – wie das neue Schwachsinnsprojekt gestörter Wirtschaftsbonzen: dieser Artikel auf der Seite des „Telegraph“ ist lesenswert – aber eigentlich verbietet sich jeder Kommentar zu diesem Schwachsinn: Indian Soccer League.
Doch die gute Nachricht ist ohnehin, dass es zu dieser Liga ganz sicher nicht kommen wird: nicht genügend Spielstätten, heißt “Verschiebung” des Saisonstarts: Link zu The Guardian.

Also nicht dass jetzt jemand denkt, ich will einfach nur Schlechtes über Indien schreiben. Ich habe nicht prinzipiell etwas gegen diese Nation. Nur was soll ich denn Gutes schreiben! Man kann meinen Artikeln ja entnehmen, wie hier die Realität ist. Oder um Clints Bemerkung über eine französische Studentin, die ihr Praktikum in Kottayam nach einem knappen Monat abbrach, zu zitieren: “Damn, I think she thought India is a Bollywood-movie! She didn’t come clear with reality…“

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