Mittlerweile haben wir zwei Varianten des Unterrichtssystems: 1-1,5 Stunden eine Lektion ab 9 Uhr und dann noch mal ab 15 Uhr eine weitere – oder nur ab 9.30 2-2,5 Stunden Unterricht mit kurzer Pause. Das letztgenannte System ist das übliche. Im weiteren Verlauf des Tages muss man mindestens 4 Stunden Selbststudium und Gruppenarbeit einplanen.
Ab dieser Woche habe ich auch damit angefangen, Arabischunterricht zu geben. Leider ist die Gruppe sehr klein (nur 3 Schüler und ein vierter, der das Alphabet kennt, will nächste Woche dazukommen). Doch dazu später mehr.
Derzeit lernt unsere sechsköpfige Gaststudentengruppe also nur Syrisch-Aramäisch, wobei der Sprachunterricht auch schon mal für ein paar Minuten Geschichts- und Landeskundeunterricht unterbrochen wird.
Aber erst einmal zur Sprache: Während bei vielen Semitischen Sprachen mit Ausnahme des sehr komplizierten Silbensystems des Amharischen (Amtssprache Äthiopiens), das Alphabet noch das Einfachste an der ganzen Sprache ist – Hebräisch ist sehr simpel, Arabisch geht auch noch – ist das syrische Alphabet relativ aufwendig zu lernen, da es drei Schriftstile mit je 22 Buchstaben, die in 14 Fällen 4 und in 8 Fällen 2 verschiedene Versionen haben, die davon abhängen wie sie im Wort stehen (also ob sie isoliert oder von beiden oder nur von einer Seite mit einem folgenden oder vorhergehenden Buchstaben verbunden sind). Das von uns im Unterricht und von Aramäischsprachigen im Verlags- und Druckwesen auch am meisten genutzte Serto ist nur die wichtigste Schrift. Eigentlich muss man nicht nur 72 Buchstaben und 5 Vokalzeichen, sondern insgesamt wegen der zwei anderen Schriftarten, die sich teilweise erheblich voneinander unterscheiden, etwa 170 Zeichen lernen.
Die Qualität des Sprachunterrichts ist bisher schon ganz gut: Grammatik zusammen besprechen und Vokabeln gemeinsam lesen, dann das ganze in Übungen (immer 10-12 Sätze Syrisch ins Englische und auch umgekehrt, 10-12 englische Beispielsätze ins Syrische, übersetzen) anwenden.
Die historischen Ausführungen von Father Rajou kann man auch nicht unbedingt kritisieren, aber mal davon abgesehen, dass so etwas auch ein wichtiger Bestandteil eines Kurses ist und die Landeskunde eigentlich noch zu kurz kommt: man muss bei manchen Themen natürlich noch mehr als an deutschen Unis aufpassen, was einem erzählt wird. Mitdenken wird ja so wie so gefordert, wobei in Indien selbstverständlich auswendig lernen viel mehr gefragt ist, als in Deutschland. Und wenn uns etwas zu der Entwicklung der Kirchen in Kerala erzählt wird, kann man auch an keiner Stelle etwas negativ anmerken. Doch so wie sich die geschichtlichen Kenntnisse zu Vorgängen im ganzen Land ausweiten, wird es manchmal hanebüchen hindunational. Und das in einer christlichen Bildungseinrichtung!
Kerala ist nun mal glücklicherweise ein Bundesstaat, in dem die Konflikte zwischen Christen, Muslimen und Hindus gegen Null gehen. Auch die hier angesiedelten Juden wurden nie verfolgt, wie das in Goa durch die Portugiesen passiert ist, wobei man die Zahlen ins Verhältnis setzen muss: wenn nur weit unter 1% Juden sind, fallen die kaum so auf wie in Europa oder Westasien, wo es immer Auseinandersetzungen gab, und können entsprechend in Ruhe hier in Indien leben. Father Rajous Sicht auf die Lage und die andersgläubigen Nachbarn in Kerala war auch entsprechend positiv. Dass die Auseinandersetzungen in anderen Landesteilen oft vielmehr politischer und ethnischer – und nicht etwa religiöser – Natur sind, hat er natürlich nicht erwähnt. Ebenso wenig die ethnische Homogenität Keralas, die zum friedlichen Miteinander (oder besser: Nebeneinander) erheblich beiträgt. Und schon gar kein Wort darüber, dass der in Kerala lange übliche Jainismus erst von den Christen massiv verfolgt und dann von den Muslimen – unter dem berüchtigten Sultan Tipu, dessen Fort in Palakkad wir uns am 11.3. angeguckt hatten – fast ausgelöscht wurde. Jainismus ist übrigens auch so eine Religion auf die von der Seite der Hindus landesweit gerne herabgeblickt wird. Die Jains gibt es schon länger als die hinduistischen Kulte und ihre Philosophie von absoluter Gewaltlosigkeit – darunter gehört auch (typisch Indien halt) der Verzicht auf Fleisch und Diskussionen darüber, ob man Kühen beim Melken weh tut – und Verzicht auf nichtlebensnotwendigen Besitz (das ging teilweise soweit, dass die Jains keine Kleidung trugen) kommt halt nicht bei jedem gut an...
Seine Erklärung ging dahingehend, dass durch die Eroberungen der Muslime, die die Hindus alle umbringen wollten, die Hindus aggressiv wurden und deshalb in vielen Gegenden Indiens gegen alle, die anders sind, eingestellt sind. Das ist nicht falsch, aber 1. unvollständig und 2. für Kerala weitestgehend irrelevant. Da sich die meisten Inder außerhalb ihres Bundesstaat – meist sogar außerhalb ihres Landkreises – auch kaum auskennen, sozusagen mit Müh und Not zusammenkriegen, dass ihre Hauptstadt New-Delhi heißt und in einer bestimmten Entfernung von ihrem Heimatort liegt, wundert mich so etwas auch nicht.
Wer jetzt denkt, es sei typisch, dass ein Christ sofort irgendwelche Muslime für ein Problem verantwortlich macht, hat ja auch nicht ganz Unrecht, sollte aber bedenken, dass durch den Einfall der muslimischen Heere im 8. und später im 16. Jahrhundert wirklich einige Dinge verändert wurden. Zwar wurden die Pläne, die ganzen polytheistischen Kulte (zusammengefasst zu „Hinduismus“) auszulöschen, schnell aufgegeben und die entgegen der klassischen islamischen Lehrmeinung keines Schutzstatus würdigen „Götzendiener“ doch unter denselben, für den Zeitraum von dem wir hier sprechen sehr toleranten Schutzstatus den auch Christen und Juden erhielten, gestellt. Doch bis Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Muslime (z.B. als Herrscher des Mogulnreiches) in vielen Teilen Indiens das Heft in der Hand und haben sich natürlich nicht immer als anständige Herrscher bewiesen.
Die Engländer, von den Rajou sehr positiv sprach (von wegen besser als die Portugiesen), waren dann bis 1947 an der Macht. Aufgeführt haben sie sich keinen Deut besser als die übelsten Herrscher der Muslime, doch die Christen Keralas zählten zu privilegierten Schützlingen. Auch durch die Engländer war es ihnen möglich, diesen Status einer einflussreichen Bildungselite, den eine überproportional große Schicht der Christen in Kerala hat, zu erreichen. Kein Wunder also, diese Aussage Rajous! Wie er auch erklärte, ist Hitler als Feind Großbritanniens entsprechend populär unter Hindus, Muslimen und anderen, die keine Günstlinge der Briten waren. Der Feind meines Feindes ist halt mein Freund...
Nach den Briten kamen sehr schnell ziemlich widersprüchlich ausgerichtete hinduistische Regime an die Macht. Unter anderem galt es auch eine der wenigen diktatorisch regierenden Frauen (und das in einem Land, in dem Gleichberechtigung der Geschlechter weitestgehend nicht bekannt ist) auszuhalten: Indira Gandhi, nach der u.a. der internationale Flughafen in New-Delhi heißt, betrog 1971 massiv bei der Wahl und regierte dann bis 1977 diktatorisch per Dekret. 1980 ergriff sie irgendwie wieder die Macht, ehe sie sich damit verschätzte, wie weit sie gegen die Sikhs vorgehen kann: nach einem von ihr persönlich veranlassten Massaker mit 2.000 Toten im wichtigsten Heiligtum dieser monotheistischen Offenbarungsreligion mit nur ca. 23 Millionen Angehörigen, wurde sie von ihren eigenen Leibwächtern liquidiert – oder ermordet, wie man’s nimmt...
Doch da viele Bundesstaaten ziemlich ihr eigenes Ding machen, wirkten sich die Entscheidungen der meistens (und das übrigens bis heute, sodass man bei Indien kaum von „Demokratie“ sprechen kann!) mehr an die Macht gekauften als gewählten Politiker, sehr unterschiedlich aus. Das in vielen Teilen Indiens üblichen Kastensystem wurde in Kerala von Anfang an am stärksten in Frage gestellt: auch wenn man nur innerhalb seiner sozialen Gruppe (christliche Gebildete heiraten nur christliche Gebildete, hinduistische Proletarier nur eine Frau aus der hinduistischen Arbeiterklasse usw.) – die Einteilung, dass die oberen Kasten mehr wert sind als Christen, Muslime etc. und diese wiederum mehr wert als die unteren Kasten, gilt heute selbst auf dem Land so gut wie gar nicht mehr. In wie fern das wirklich ein Verdienst der in Kerala populären extremen Linken ist, kann ich nicht beurteilen. Denn Widersprüchlich ist auch die Communist Party of India (Marxists) [CPI(M)]: Marxismus-Leninismus, Diktatur des Proletariats, Anti-Globalisierung und Anti-Kapitalismus vertreten, sich als „revolutionäre Beschützer der indischen Arbeiterklasse“ bezeichnen, was von sozialer Gerechtigkeit labern und auch einige Projekte zur Alphabetisierung oder Hebung des Sozialstatus von Bauern (mehr oder weniger erfolgreich) durchführen – aber zum Beispiel die marxistisch-leninistischen anti-religiösen Thesen rauslassen. Würde die CPI(M) ganz Indien regieren, würde sie sich sicher so aufführen, wie die Sowjets oder gar die Nordkoreaner in ihrem jeweiligen Machtbereich – also noch ein Beispiel dafür liefern, dass die schlimmsten Diktaturen und politische Verbrechern nicht den Religiösen (die auch schon genug angestellt haben, aber keinen Hitler, Stalin, Mao Tse Tung, Pol Pot oder Gebrüder Kim hervorgebracht haben), sondern eben viel mehr den Atheisten zuzuordnen sind – benehmen. Doch so weit ist es in Indien, einem Land mit weit überwiegend Gläubigen und nur sehr, sehr wenigen Karteileichen und Atheisten, noch lange nicht.
Einen wichtigen Fakt, den Father Rajou (wahrscheinlich nicht bewusst, sondern eher aus Unwissenheit – die Hindus, die ihre Geschichte gut kennen, erzählen einem das ja auch nicht gerne) ausgelassen hat, ist aber natürlich der, wie überhaupt der Hinduismus zur erfolgreichsten Religion Indiens werden konnte. Vor den „britischen Ausbeutern“ waren also die „brutalen Moslems“ und davor die „überhaupt nicht aggressiven Hindus“... Tja, und davor? Da gab es im ganzen indischen Subkontinent in erster Linie Buddhisten. Erst als die hinduistischen Kulte erstarkten und einig genug waren, sodass auch eine Zusammenfassung dieser polytheistischen Glaubensformen zu einem Oberbegriff „Hinduismus“ sinnvoll ist, wurde sie so einflussreich, dass sie die Buddhisten fast völlig vom Gebiet des heutigen Indien auslöschen oder nach Bhutan, China, Sri Lanka etc. verjagen konnten. Nach Rajous Logik muss man den Konflikt auf Sri Lanka auch so erklären: die Buddhisten dort sind so aggressiv, weil die Hindus sind verfolgt haben...
Also ein Geschichtsbild haben viele Inder... Das ist ja fast so abstrus wie das der Franzosen und Serben!
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