Montag, 21. März 2011

W240VI: Auf einer Fahrt nach Asien zeigte sich das wahre Gesicht des türkischen Fußballs

Beykozspor 1908 3:1 Yimpaş Yozgatspor
Datum: Sonntag, 6. März 2011 - Anstoß 13.30
Liga: „Spor Toto“ 3. Lig („Sportwetten 3. Liga“ – 4. Liga, 2. Halbprofiliga der Türkei)
Ergebnis: 3:1 nach 93 Min. (46/47) – Halbzeit: 0:1
Tore: 0:1 3. Doğan Şengül, 1:1 53. Soner Keleş, 2:1 69. Şeref Kuru, 3:1 78. Sercan Ermiş
Verwarnungen: İbrahim Ayyıldırım, Cemal Işık, Ahmet Tanrıkulu (alle Yozgat)
Platzverweise: İbrahim Ayyıldırım (Yozgat, 23. Gelb-Rot nach Foul und Meckern)
Spielort: Beykoz Stadyumu (Kap. 3.500 Sitzplätze)
Zuschauer: ca. 450 (davon ca. 30 Gästefans)
Unterhaltungswert: 6,5/10 (Tolles Stadion, gute Atmosphäre, übelster Acker als Spielfeld aber trotz vielen Fehlern wirklich ansehnliche Partie)

Sightseeing: 9,0/10 Punkten!

Photos and English version:
a)
ISTANBUL – ALL SIGHTS FROM HAGIA SOPHIA AND BLUE MOSQUE TO ANADOLU CASTLES AND ÜSKÜDAR
b)
BEYKOZSPOR 1908 vs. YİMPAŞ YOZGATSPOR (3. LİG)

Video:
c)
TURKISH NATIONAL ANTHEM BEFORE BEYKOZSPOR - YOZGATSPOR
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Der Sonntag ist eigentlich der Sporttag in der Türkei, aber mangels Karten für das Abendspiel der Süper Lig zwischen Beşiktaş und Trabzonspor beließen wir es bei einem Spiel. Zuvor besuchten wir aber die zwei Festungen unterhalb der großen Bosporusbrücke. Mit der Metro nach Kabataş war ja Standard, aber heute probierten wir mal das Busnetz aus. Das ist zwar sehr gut ausgebaut, aber mangels aushängender Fahrpläne etwas unübersichtlich, weswegen man immer fragen muss, wo das Ding eigentlich hinfährt. Aber gleich der erste Busfahrer, den wir fragten, war der richtige: in weniger als einer halben Stunde kamen wir zur Rumeli Hisarı, der klar größeren der beiden Festungen.

Für nur 3 Lira (1,50€) Eintritt und Taschenkontrolle wie beim Fußball – statt den üblichen Gepäck-Scannern – konnte man in der Festung auf den enormen Mauern mit den 15 Türmen, von denen drei extrem massiv gebaut sind, herumklettern. Selbst die schmalsten Treppenabgänge waren nicht gesichert, immer wieder waren 10 oder 15 Meter hohe Mauerdurchlässe völlig ohne Sicherung – falls die Türkei mal doch in die EU gelassen wird, was anstelle von Griechenland wünschenswert wäre, wird diese Festung aber sicherlich mit EU-Mitteln gesichert werden. Da gehen dann Abenteuerfaktor und Authentizität etwas verloren. Aber die Rumeli Festung kann man wirklich in einem Atemzug mit Hagia Sophia, Blauer Moschee und den Zisternen nennen. Eine der absoluten Top-Sehenswürdigkeiten, die ich jedem empfehlen kann!

Die genau gegenüber liegende Anadolu Hisarı ist nur von außen und im offenen Innenhof zu besichtigen. Auch dieser kleinere Festungsbau hat mehrere gut sichtbare Türme, aber bei weitem nicht so den spektakulären Baustil wie der große Bruder gegenüber. Zwischen beiden Festungen kommt man am schnellsten mit dem Taxi (ca. 10€ Fahrtgebühr und 2€ Brückenmaut pro Strecke) hin und her. Nach Beykoz fuhren wir dann mit dem Bus bis zur Endstelle Ortaçeşme.
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Im bosporusnahen Teil von Beykoz gibt es zwei auffälligere Moscheen und links von der einen, einen ziemlich kahlen Park. Dieser wird flankiert von einfachen Privathäusern und Imbissbuden, sowie den Stadien von Ortaçeşme und Beykozspor. Beykozspor ist einer der vielen kleinen überregional spielenden Istanbuler Clubs. Wäre Erzurum nicht zwangsrelegiert worden (der Club aus dem fernen Osten des Landes führt derzeit in der entsprechenden Staffel der Amateurliga), wäre Beykoz Tabellenletzter in der vierthöchsten Spielklasse der Türkei, der 3. Lig (gesprochen: Üçünçü Lig, ç = tsch), die mit der deutschen Oberliga vergleichbar, da halbprofessionell und geographisch großflächig, ist. Auch der Gast, den ich seit ich mich für türkischen Fußball interessiere beobachte, da das erste Spiel das ich im türkischen Fernsehen gesehen habe, ein Spiel zwischen Yozgat und Kayseri war, kann mit dem hinteren Mittelfeldplatz nicht zufrieden sein und befindet sich auch noch in Abstiegsgefahr. Schließlich spielten sie 2000 bis 2002 in der Süper Lig. Benannt sind sie übrigens nach dem Yozgater Handelskonzern Yimpaş.

Das kleine Stadion von Ortaçeşme ist eine ziemliche Bruchbude, doch das größere von Beykoz ist nicht so viel besser, wenn auch richtig sehenswert. Die Karten gibt es an einem Kiosk vor den gelb-schwarzen Betonmauern des Stadions – mit 5 Lira (2,50€) recht hoch – auf zwei Seiten befinden sich dann Tribünen, wobei die kleinere heute nicht freigegeben war und im Schatten von Bäumen einige Hundert Schalensitze anbietet. Die Hauptseite hat dann sogar einen kleinen überdachten Oberrang und ebenfalls schwarz-gelbe Sitze. Diese sind auf einer Betonplattentribüne mit ganz schönen Ritzen und Löchern montiert. Wir als Ausländer wurden gleich von Ordnern und einem Offiziellen freundlich gegrüßt und auf die überdachten Plätze gebeten. Unterhalb der türkischen Profiligen sind doch noch keine kühlen verwestlichten Umgangsformen zu spüren, sondern eher die Atmosphäre wie wir sie aus arabischen Ländern kennen. Auch die Musik war kein weicher Pop türkischer und internationaler Art wie in Süper Lig Stadien, sondern klassische türkische Volksmusik und arabische Folklore – aufgedreht bis zu Anschlag, dass die Tribüne bald wackelte.

Die Fans waren zwar nicht besonders zahlreich erschienen – Respekt vor allem an die knapp 30 Gästefans, die über 600 Kilometer hin und zurück fuhren und sich während des Spiels ab und an zu Wort meldeten – aber besonders die jungen Leute gingen gut ab mit den üblichen türkischen Melodien. Die restlichen Zuschauer reagierten emotional auf den Spielverlauf. Im Übrigen konnte man ganz gut soziale Studien betreiben, was die Zuschauer anging: ältere Männer mit dichtem Bart, Lederjacke und Zigarette – nicht ganz so alte Männer mit Schnauzbart und oller Mütze – Frauen in langem Mantel und Kopftuch – Jugendliche mit Sportjacken und stets derben Sprüchen auf den Lippen... Hier versammelten sich wirklich fast ausschließlich einfachere, weniger gebildete und konservative anatolischstämmig Istanbuler. Wer am Vortag noch bei Galatasaray war, erkennt die Schichtenzugehörigkeit sofort – das hat mit Klischee und Vorurteil nichts zu tun.
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Der Rasen glich eher einem Strandfußballfeld (ach nein, auf Deutsch heißt das ja „Beach Soccer“ und die Türken sagen ja auch „Plaj Futbolu“ - gesprochen: Plaasch, vom französischen Wort für Strand) als einem Rasenplatz. Solche Sandkuhlen auf dem deutschen Rasen und kein deutscher Schiri würde das Spiel anpfeifen – aber der Türke leitete den Kick auch so lässig, da war selbst wüstes Zerren und Sperren des Gegners noch „sauber und fair“. Der Beginn war gut: mit einem Angriff erzielte Yozgat schon nach drei Minuten per Volley aus spitzem Winkel unter die Latte das 0:1 – herrlich gemacht! Nur war leider das, was Yozgat danach zeigte schwach. Noch zwei weitere Chancen und sonst nur hinten drin. Allerdings war Beykoz zu blöd das Tor zu treffen: selbst aus zwei Metern wurde noch ein Ball verstolpert und auch der fällige Elfmeter nach einem der vielen Aussetzer der Gästeabwehr wurde verschossen. Allerdings muss man gerade hier dem Yozgater Torwart Lob aussprechen – der hielt wirklich sicher und gut. Einer der Versager in der Yozgat Abwehr bekam dann gelb-rot, doch auch in Überzahl erzielte der Gastgeber aus Beykoz nicht einen Treffer und erspielte sich auch kaum Chancen.

Kurz nach der Pause begann Beykoz besser zu spielen: ebenfalls aus spitzem Winkel trafen sie zum 1:1. Auch beim zweiten Treffer, einer Bogenlampe direkt neben den Innenpfosten war der Yozgat-Torwart machtlos. Zum Ende hin setzte der Gastgeber sogar noch einen drauf, was auch nicht unverdient war, bei dem läuferisch so schwachen und lahmen Gegner aus Zentralanatolien. Das 3:1 führte zu Zaun- und Spielertunnelklettereien der einheimischen Fans, mit denen wir dann das Stadion nach einer Applausrunde für Beykozspor verließen. Das Spiel war überhaupt nicht schlecht – besser und unterhaltsamer als die meisten Regional- und Oberligaspiele in Deutschland.

Übrigens: wen das Video mit der Nationalhymne wundern sollte; die türkische Hymne hat einen viel, viel größeren Stellenwert als in Deutschland. Vor jeder öffentlichen Veranstaltung, die eine solche Abspieltechnik hat, vor Beginn und nach Ende einer jeden Schulwoche usw. wird diese Hymne, die mit der militärischen Aufforderung "Aufstehn! Unabhängigkeitsmarsch!" angekündigt wird, gespielt. Die Präsens von roten Flaggen mit weißem Halbmond und Stern, Atatürk-Darstellungen und -Zitaten (im Beykoz-Stadion z.B. hing „Ne mutlu Türküm diyene“ aus – „Wie glücklich ist der, der sagen kann: ,Ich bin Türke'“) oder dem Unabhängigkeitsmarsch mag für Deutsche befremdlich bis albern sein, aber für die meisten Türken ist das ein Ausdruck von Vaterlandsliebe. Wie übersteigert diese Vaterlandsliebe vielfach ist, will ich jetzt nicht ausführen, nur: nach deutschen Maßstäben wären wohl die meisten der sich als „patriotisch“ bezeichnenden Türken „rechtsradikal“ – aber was sind schon deutsche Maßstäbe...

Nach einem Imbiss fuhren wir per Bus und Metro mit kurzen Spaziergängen zwischen den Stationen zurück zum Hotel. In der Nähe probierten wir am Abend dann mal das Restaurant „Buhara“ aus. Das wird nicht umsonst in Istanbul-Reiseführern empfohlen: für zwei Personen mit Vor-, Haupt- und Nachspeise sowie je zwei Getränken kann man (5-10% Trinkgeld gehören sich auch) mit 20-30€ rechnen – ein durchschnittlicher Preis bei wirklich hoher Qualität.
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Statistik:
Grounds: 535 (heute ein neuer Ground; diese Saison: 85 neue)
Sportveranstaltungen: 1.237 (heute eine, diese Saison: 124)
Tageskilometer: 60 Öffentliche Verkehrsmittel (Metro, Taxi, Bus)
Saisonkilometer: 22.330 (12.070 Auto/ 4.680 Bahn, Bus, Tram/ 2.830 Fahrrad/ 1.950 Flugzeug/ 800 Schiff, Fähre)
Anzahl der Fußballspiele seit dem letzten 0-0: 1
Anzahl der Wochen, seit der letzten Woche ohne eine einzige Sportveranstaltung (31.7.-6.8. 2006): 240

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